28.02.2023

Die 4 Dimensionen der Mobilitätsarmut

Von Elena Kornettka

Mobilitätsarmut. Was ist das überhaupt, was bedeutet es, "mobilitätsarm" zu sein, sich nicht so fortbewegen zu können, wie es nötig wäre? Und was sind die Konsequenzen von fehlenden oder viel zu teuren Infrastrukturen im Bereich der Mobilität?
Im Beitrag erläutern wir die 4 Dimensionen von Mobilitätsarmut, deren Konsequenzen und Lösungsansätze.

 

"Mobilitätsarmut beschreibt den Zustand, durch unzureichenden Zugang zu Mobilitätsangeboten nur eingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können."
Vier Formen der Mobilitätsarmut sind hierbei besonders relevant: Verkehrsarmut, Erschwinglichkeit, Erreichbarkeitsarmut und Belastung durch negative Externalitäten. Diese 4 Dimensionen überschneiden und verstärken sich an einigen Stellen:

1. Verkehrsarmut

Die Verkehrsarmut ist wohl die bekannteste Form von Mobilitätsarmut. Hierbei geht es darum, dass die Verkehrsoptionen wie ÖPNV oder auch Pkw nicht ausreichend zur Verfügung stehen. Laut Agora Verkehrswende fehlt etwa zwei Drittel der deutschen Bevölkerung der Zugang zu einem ausreichendem ÖPNV-Angebot. Knapp 25% sind sogar nur ungenügend mit den benötigten Diensten versorgt. Hierbei gibt es erhebliche Unterschiede zwischen Stadt und Land. Auf dem Land ist der ÖPNV meist nur für den Schulverkehr hinlänglich ausgebaut. Auch in Gegenden mit niedrigerem Durchschnittseinkommen fehlt häufig die so dringend benötigte Versorgung mit öffentlichem Personen- und Nahverkehr. Gerade hier ist der Bedarf danach offensichtlich besonders hoch, da auch der Besitz eines privaten Pkw mit tendenziell höherem Einkommen korreliert. Fehlen die entsprechenden öffentlichen, bezahlbaren Angebote, werden Menschen in eine Form der Autoabhängigkeit gedrängt. Die regelmäßigen Ziele des Alltags können ansonsten nur mühsam erreicht werden. Eindrücklich beschreibt das auch der Bericht "Mobilität in Deutschland" des BMDV von 2017: Damals besaßen auf dem Land rund 90% der Haushalte mindestens einen Pkw, in der Stadt waren es nur ca. 60%.

2. Erschwinglichkeit

Wenn das verfügbare Einkommen nicht ausreicht, um Fahrscheine, oder einen Pkw zu finanzieren, sprechen wir von dem Problem der "Erschwinglichkeit". In Deutschland werden rund 16% der Menschen als "geringverdienend" eingestuft. Für diese ist die regelmäßige Nutzung von ÖPNV, aber besonders auch die Anschaffung und Haltung eines eigenen Pkw oft unmöglich. Durch berufliche, oder private Umstände sind viele Menschen aber von der Nutzung eben dieser Mittel abhängig, wodurch dann in anderen Bereichen Einsparungen vorgenommen werden müssen. Diese Bereiche sind dann bspw. Lebensmittel, Kleidung, oder Heizenergie.

Zwischen Dimension 1 und 2 lassen sich schon erste Wechselwirkungen erkennen: Einkommensschwächere Haushalte benötigen Wohnraum, der für sie langfristig bezahlbar ist. Dieser befindet sich häufig eher in weniger zentralen Gegenden, die unter Umständen schlecht angebunden sind. Die Autoabhängigkeit wirkt sich dann nicht nur negativ auf den Geldbeutel, sondern auch auf die Gesundheit aus. Offensichtlich ist die Luftqualität im öffentlichen Raum schlechter, wenn mehr Pkw genutzt werden. Von Armut, oder unzureichendem Einkommen betroffene Menschen leiden so quasi doppelt unter den ausbleibenden Alternativen zum MIV. Selbst Sozialtickets liegen oft über dem Budget, das laut ALG II für Verkehr und Mobilität vorgesehen ist. Wer trotzdem auf den ÖPNV zurückgreift, tut dies dann oft über Einzelfahrscheine, oder auch mit Regelverstößen. Ohne gültigen Fahrschein zu fahren kann ein Bußgeld (60€), oder gar eine Ersatzfreiheitsstrafe bedeuten, wenn die Strafe finanziell nicht stemmbar ist. Hierzu hat übrigens auch das Neo Magazin Royal schon einmal berichtet.

3. Erreichbarkeitsarmut

"Wer grundlegende Bedürfnisse nicht befriedigen oder am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann, weil die Ziele (z. B. das Krankenhaus) nicht zu angemessenen Kosten oder in einer vertretbaren Zeit und Weise erreichbar sind", ist von Erreichbarkeitsarmut betroffen. Auch hier spielen wieder die beiden vorab beschriebenen Dimensionen eine Rolle: Gibt es ein Verkehrsangebot, um diese Ziele zu erreichen? Ist das Angebot bezahlbar? Neben den Faktoren Wohnort und sozioökonomischem Hintergrund spielen bei der Erreichbarkeit auch andere Lebensumstände eine Rolle: Gibt es Kinder, die ebenfalls transportiert werden müssen? Gibt es körperliche Einschränkungen, oder andere Barrieren? Senior*innen und Menschen mit Behinderung haben es im Stadtbild oftmals besonders schwer. Im Juni 2022 waren bspw. in Berlin 20% der U-Bahnhöfe nicht barrierefrei zu erreichen. Dies wird besonders absurd, wenn deshalb Grundversorgungseinrichtungen nicht mehr, oder nur sehr beschwerlich erreicht werden können. Modelle wie Picnic, oder Getir, die Lebensmittel und andere Produkte für den Haushalt nachhause liefern können hier partiell Abhilfe schaffen, lösen allerdings auch nicht das Kernproblem.

4. Belastung durch negative Externalitäten

Feinstaub, Lärm, Gefahrenzonen: Wie oben bereits angedeutet sind oft solche Gruppen einem höheren Risiko der gesundheitlichen Belastung ausgesetzt, die sozioökonomisch sowieso schon benachteiligt sind. Zudem fehlt ihnen häufig die Alternative zur bestehenden Lebenssituation. Wohnungen mit günstigen Mieten finden sich - offensichtlich - eher an vielbefahrenen Straßen, wodurch die Luft dort deutlich mehr durch Stickoxide und Feinstaub belastet ist. Thema hier: Ungleichverteilung der Folgen von Klimaschäden… Denn offensichtlich tragen die Menschen, die hier höher belastet sind, durchschnittlich weniger zu den entstehenden Schäden bei. Auch Verkehrsunfälle sind ungleich verteilt: Im Jahr 2019 wurde in Deutschland durchschnittlich alle 19 Minuten ein Kind im Alter von unter 15 Jahren bei einem Verkehrsunfall verletzt oder gar getötet. Das verletzt nicht nur das Verursacherprinzip, sondern im wahrsten Sinne des Wortes die Menschen, die am allerwenigsten zu Gefahr und Konsequenzen beitragen.

 

Wie können wir Mobilitätsarmut in den Griff kriegen?

Nur durch eine Mobilitäts- und Verkehrswende können wir die Erreichung der Klimaziele gewährleisten. Es braucht Klimaneutralität im Verkehr. Das bekommen wir nur hin, wenn wir Alternativen schaffen, Subventionen zielführend einsetzen und bestehende Steuererleichterungen für klimaschädliches Verhalten abschaffen.

Multimodale, bedarfsgerechte Nutzung von Verkehrsmitteln muss der Status Quo werden. Das kann nur über entsprechende Angebote gewährleistet werden. Diese schaffen wir mit neuen Konzepten: Carsharing, On-Demand-Angebote, Rad- und Fußwegeinfrastruktur. Was dabei hilft? Investitionen, Neudenken der Bemessungsgrundlagen, die Öffnung von digitalen Schnittstellen, you name it.

Die Qualität des Angebots muss vor allem an der gesellschaftlichen Teilhabe gemessen werden, die es ermöglicht. Mobilitätsarmut ist keine Nebenwirkung von anderen Armutsdimensionen, vielmehr kann Mobilitätsarmut den Strudel von Exklusion, Segregation oder Diskriminierung verstärken.

Die Bekämpfung von Mobilitätsarmut bietet so viele Chancen. Für ein stärkeres Miteinander, mehr Teilhabe, mehr WIR.

 

Welchen Barrieren begegnet ihr im Alltag? Wo empfindet ihr Ungleichbehandlung, wo fehlen euch Mobilitätsangebote?